Audio mp3: »Grenzüberschreitende baltische Polyfonie«, 6:31 min
Vier Frauen aus Estland, Lettland und Litauen haben ein herausragendes Album veröffentlicht, auf dem – mit nur sparsamem Instrumenteneinsatz – die verschiedenen Vokaltraditionen der drei Länder, in denen unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, miteinander verbunden werden. Eine besonders elaborierte Gesangsform ist die Polyfonie, bei der die Singenden verschiedene Variationen der Basismelodie gleichzeitig ertönen lassen.
Text: Willi Klopottek; Fotos: Anna Matule
Seit dem Mittelalter ist die Polyfonie in Europa verbreitet, und heute ist sie unter anderem noch in Bulgarien und Georgien sowie auf Sardinien und Korsika lebendig. In den baltischen Staaten erlebt die Gesangsform seit geraumer Zeit ein Revival, und das Quartett The Baltic Sisters ist die neuste Band des Genres. Als Vokalensemble, das die traditionellen Gesänge aller drei baltischen Länder miteinander verbindet, sind sie Pionierinnen.
Estland, Lettland und Litauen waren in den letzten Jahrhunderten Spielball der angrenzenden Staaten und erlitten – nach kurzer Autonomie nach dem Ersten Weltkrieg – im Zweiten Weltkrieg erst die Einverleibung durch die Sowjetunion, dann den Einmarsch deutscher Truppen und schließlich die erneute sowjetische Annexion. Erst 1990/1991 konnten sie wieder die Unabhängigkeit erkämpfen. Es ist ganz erstaunlich, dass trotz dieser langandauernden Herrschaft fremder Mächte und der rigorosen ideologisch-bürokratischen Kulturpolitik Moskaus kulturelle Traditionen und damit auch das musikalische Erbe in diesen drei Staaten zumindest in Teilen erhalten werden konnten und sogar ein Revival erleben. Die Baltic Sisters sind ein besonders bemerkenswerter Teil davon.
Das Ensemble besteht aus Vineta Romāne aus Lettland, Marion Selgall aus Estland und Laurita Peleniūtė aus Litauen, zu denen kurze Zeit später mit Liene Skrebinska eine weitere Lettin stieß. Im Januar 2025 erschien ihr Debütalbum mit dem Titel Värav – Varti – Vartei („das Tor“ in allen drei Sprachen) bei CPL-Music und enthält überwiegend a cappella eingesungene Stücke mit gelegentlichen dezenten instrumentalen Ergänzungen. Die Basis bilden Sutartinės-Lieder aus Litauen, die mit Elementen aus der estnischen und lettischen Liedtradition angereichert werden. Im Interview erläutern Vineta Romāne, Marion Selgall und Laurita Peleniūtė die Hintergründe.
Wie ist die Gruppe entstanden?
Wir drei lernten uns kennen, als wir 2022 die Weltmusikmesse WOMEX in Lissabon besuchten, wo die Stände unserer drei Staaten nebeneinanderlagen. Laurita brachte uns anderen bei, Sutartinės-Lieder zu singen, die uralte litauische Form der Polyfonie. Wir beiden anderen mochten diesen Gesangsstil und beschlossen, von Zeit zu Zeit gemeinsam zu singen. Bei unseren zunächst seltenen Treffen fingen wir auch an, zu dritt estnische und lettische Lieder zu integrieren. Kurze Zeit später, im Frühling 2023, schloss Liene sich uns ans, die aus dem östlichen Lettland kommt und ebenfalls singt sowie Kokle spielt [die lettische Variante der Kastenzither; Anm. d. Verf.]. In Lissabon entstand auch die Idee für unsere erste Aufnahme. Wir nahmen dann mit der spanischen Obertongesangsgruppe Muom das litauische Lied „Saulala“ auf.
Ist traditioneller Gesang in den baltischen Ländern weiterhin lebendig?
Vineta Romāne: In Lettland ist die Tradition des polyfonen Gesangs in zwei Regionen erhalten geblieben, und zwar in Lettgallen und im südlichen Kurland, wo man auch heute noch alte Frauen findet, die die Lieder von ihren Müttern und Großmüttern geerbt haben.
Marion Selgall: Polyfoner Gesang ist im Südosten Estlands noch lebendig und auch in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen worden [wie auch die litauischen Sutartinės; Anm. des Verf.].
Laurita Peleniūtė: Die alte Tradition in Litauen ist tot. In den Dörfern, in denen Menschen lebten, die Landwirtschaft betrieben, hat sie sich länger halten können. Allerdings ist es so, dass Ende des 19. Jahrhunderts Ethnologen diese Lieder aufgezeichnet haben, und man kann sie heute in den Archiven finden, wo es viele Tonaufnahmen gibt. Die Sutartinės, die ursprünglich bei der Arbeit auf den Feldern und auf dörflichen Festen gesungen wurden, erfuhren eine Wiederbelebung in den Städten, allerdings in veränderter Form. Sie vermitteln ein starkes Gemeinschaftsgefühl und sind bei Feiern sehr beliebt.
Wie seid ihr auf die traditionellen Gesänge aufmerksam geworden?
Vineta Romāne: Ich habe schon als Teenager in einer Folkloregruppe gesungen, denn ich mochte sehr gern Chorgesang. Später wurde ich Mitglied des lettischen Frauenchores Saucējas, und wir haben uns sehr mit alten Tonaufnahmen von Sängerinnen beschäftigt. Viel gelernt haben wir zudem bei einem Besuch der alten Sängerin Margarita Šakina, die in Lettgallen lebte.
Marion Selgall: Ich bin nicht mit Volksliedern aufgewachsen, obwohl meine Großmutter mir einige Kirchenlieder vorgesungen hat. Das erste estnische Volkslied habe ich während meiner Zeit am Gymnasium gehört. Das hat mein Interesse geweckt, und ich studierte dann vergleichende Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Volksmusik an der Universität im südestnischen Tartu.
Laurita Peleniūtė: Als ich mein Studium an der Universität von Vilnius begann, hörte ich zum ersten Mal junge Leute, die wunderschöne Volklieder sangen. Damals war ich neunzehn Jahre alt. Das hat mein Leben verändert.
Die Mitglieder der Baltic Sisters haben bereits vorher viele Erfahrungen sammeln können. Vineta Romāne ist Mitglied der Folkband Laiksne und, wie gehört, im Frauenvokalensemble Saucējas, mit denen sie jeweils fünf Alben aufgenommen hat. Marion Selgall ist Mitglied der estnischen Gruppe 6hunesseq, deren Debütalbum im letzten Jahr erschien. Laurita Peleniūtė nahm bereits 2019 ein Album mit der Formation UDU auf, auf dem auch Obertongesang aus Burjatien zu hören ist, während Liene Skrebinska in der lettischen Gruppe Viteri debütierte. Hier begegnen sich also vier starke Frauen in einem einzigartigen Ensemble.
www.laurita.lt/en/balticsisters
Aktuelles Album:
Värav – Vārti – Vartai (CPL-Music, 2024)
Aufmacherbild:







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